Dieser Artikel ist aufgrund einer guten Diskussion mit meinem Ex-Kollegen Lars Backes entstanden. Ich hoffe das löst ein wenig auf, wie ich über unsere Branche und Kreativität denke ;-)
Meine Frau und ich hatten eine Once-in-a-Lifetime-Chance mit einem mobilen Zuhause in der Welt unterwegs zu sein. Südrussland, Kalmückien, die einzige buddhistische Oblast Europas. Es war im Frühjahr 2020 eine unserer Stationen, die mir gut in Erinnerung geblieben ist. Wir standen vor Jurten der Kalmücken. Runde Zelte, seit Jahrhunderten unverändert. Diese westmongolischen Oiraten waren Anfang des 17. Jahrhunderts aus Zentralasien an die Wolga gekommen, auf der Suche nach neuen Weidegründen. Nicht weil die Jurten schön aussehen, sondern weil sie überleben lassen. Wind, Steppenklima, schneller Aufbau. Alles berücksichtigt. Und innen organisiert sich der Raum um die Energie der Familie, um Rituale, um Leben. Das ist pure Funktionalität. Kein Designer hat diese Form erdacht, kein Architekt hat sie geplant. Sie ist entstanden, weil sie funktioniert. Das ist Kreativität in ihrer ursprünglichen Form.
Der systematische Denkfehler der 60er Jahre.
1960er: Die Werbebranche institutionalisiert Kreativität. Creative Directors, Art Directors, Copy Writers. Eine ganze Industrie macht aus einer kognitiven Grundfunktion eine Organisationseinheit. Das Problem war nicht die Institutionalisierung. Das Problem war die Definition der Leistung. Agenturen definierten sich über einzelne Leistungen: Strategie, Kampagnen, Kreation, Werbung, Websites, etc. Dabei waren sie schon damals Problemlöser, besonders die kreativ denkenden Expertisen.
Warum das so selten passiert.
Kreativität ist die Fähigkeit, ein Problem aus einer ungewöhnlichen Perspektive zu betrachten. Dadurch neue Lösungsräume zu erschließen. Und zu Antworten zu finden, die niemand auf der Agenda hatte. Das ist intuitive Strategiearbeit. Das Gegenteil von verkopfter Analyse. Trotzdem passiert es selten. Drei Denkfehler blockieren beide Seiten:
Fehler 1: Optimierung auf Bekanntes. Dashboards zeigen, was war. Nicht, was möglich wäre. Wer nur auf Performance-Daten schaut, sieht keine Chancen, sondern vermeintliche Sicherheit.
Fehler 2: Risikominimierung. Systeme belohnen den sicheren Hafen. Aber Durchbrüche entstehen, wo andere nicht hinschauen. Wo es unangenehm wird. Wer nie scheitert, versucht nichts Relevantes.
Fehler 3: Veraltete Erwartungen. Agenturen verkaufen noch immer ein Korsette aus Strategie & Kommunikation Assets statt Lösungen. Unternehmen kaufen immer noch PowerPoint-Decks und Kreation statt Transformation. Beide denken in alten Kategorien. Und immer noch geht's um die eingetretenden Pfade, auf denen wir uns schon so lange bewegen.
Der ungenutzte Agentur-Vorteil.
Agenturen haben den strukturellen Vorteil: branchenübergreifende Erfahrung. Sie sehen Patterns, die Inhouse-Teams übersehen. Lösungen aus Branche A für Probleme in Industrie B. Talente, die es gewohnt sind, sich schnell in neue Problemstellungen einzuarbeiten und auf eine immense Erfahrung zurückgreifen. Ein echtes Pfund für Unternehmen! Aber wir müssen ihnen die richtigen Services anbieten:
- Produktentwicklung statt nur Produktkommunikation
- Service Design statt nur Performance Media und Reklame
- Business Model Innovation statt nur Brand Positioning
- Strategische Problemlösung statt nur kreative Umsetzung
Was wir dringend ändern sollten.
Kreativität als strategische Problemlösung zu verkaufen statt als ästhetische Ausdrucksweise. Den branchenübergreifenden Erfahrungsschatz wertbasiert verkaufen statt zu verschenken. Das bedeutet: Systeme schaffen, die unkonventionelles Denken belohnen statt zu bestrafen. Teams, die bewusst diverse Perspektiven einbringen. Prozesse, die experimentelle Schleifen erlauben.
Die eigentliche Erkenntnis.
Je standardisierter alle anderen werden, desto wertvoller wird das Unerwartete. KI optimiert auf Wahrscheinlichkeiten. Sie macht das Erwartbare perfekt. Das Überraschende bleibt menschlich. Aber haben wir den Mut, den Teufelskreis zu durchbrechen?
Die Kalmücken würden darüber lachen. Für sie ist es selbstverständlich: Man löst Probleme. Mit allem, was man hat. Vielleicht ist das der wichtigste Jobtitel: Problemlöser.
Steht in keiner Stellenausschreibung. Sollte es aber.